Die Rolle der Linguistik im Studium Deutsch als Fremdsprache

Maria Thurmair, Regensburg

 

Dieser Beitrag stellt ein Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Linguistik in der Ausbildung von Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrern dar.  Nach einigen Überlegungen zum Konzept der ‚Lehrergrammatik’ wird die Rolle der Grammatik im Spracherwerbsprozess generell erörtert und spezieller auf den ‚Nutzen‘ und die Relevanz für Lehrer und Lerner eingegangen. Schließlich wird ausführlich das Konzept einer ‚Pädagogischen Grammatik‘ diskutiert: es wird an verschiedenen Beispielen gezeigt, welche Charakteristika eine Pädagogische Grammatik aufweisen muss, um optimal für Zwecke der Sprachvermittlung eingesetzt werden zu können.

 

1. Linguistik im Studium Deutsch als Fremdsprache

Ein zukünftiger Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrer soll dazu befähigt werden, die deutsche Sprache, Literatur und Kultur als fremde zu vermitteln. Die Beschäftigung mit Sprache spielt dabei sicher eine zentrale Rolle, nicht nur in der Sprachvermittlung selbst, sondern auch in der Literatur- und Kulturvermittlung. Sprache ist nicht nur selbst Teil einer Kultur, sondern umgekehrt präsentiert sich Kultur auch hauptsächlich durch Sprache.

Für die Beschäftigung mit Sprache im Fremdsprachenunterricht kann – so trivial das klingt – die Linguistik auf verschiedenen Ebenen wertvolle Beiträge leisten. Linguistik ganz allgemein beschäftigt sich mit dem Sprachsystem, stellt dessen Systematik, Struktur und Regelhaftigkeiten dar, und untersucht – in einem modernen Verständnis – die Bedingungen des Gebrauchs von Sprache. Kein Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrer muss ausgebildeter Linguist sein, aber er muss in der Lage sein, die Grundprinzipen der deutschen Sprache in ihren Strukturen und ihren Gebrauchsbedingungen zu beschreiben. Explizites Sprach- und Strukturwissen ist übrigens in jedem Fall erforderlich, egal, welcher Fremdsprachenlehrmethode man anhängt: gerade in einem Sprachunterricht etwa, in dem Sprachstrukturen nicht kognitiviert werden, muss der Lehrer besonders gutes grammatisches Wissen haben.

Das geforderte explizite Sprach-Wissen ist bekanntlich zu unterscheiden vom Sprach-Können; für den Lehrenden reicht reine Sprachbeherrschung ganz sicher nicht aus: deshalb ist es ja ein alter, aber leider immer noch weit verbreiteter Trugschluss, dass Muttersprachler als Muttersprachler prädestiniert für Sprachunterricht seien. Auch und gerade Muttersprachler müssen sich Sprachwissen aneignen und Nicht-Muttersprachler müssen ihr Sprachwissen – im Unterschied zum Lerner – jederzeit verfügbar haben. Explizites Sprach-Wissen muss also beim Lehrer genauso verfügbar und abrufbereit sein wie das sogenannte unbewusste Können.

Dabei muss ein potentieller Lehrer nicht nur das System einer Sprache, also die Grammatik, explizit kennen: er sollte auch Wissen über das Phänomen Sprache an sich haben, über deren Funktionieren, ihre Gebrauchsbedingungen und Normen, ihre Erscheinungsformen. All dies kann und sollte durch eine Beschäftigung mit moderner anwendungsbezogener Linguistik bereits im Studium erreicht werden, und Wissen in den genannten Bereichen kann auch dazu dienen, den Lehrer mündig und autonom zu machen.

Die Beschäftigung mit Linguistik in Studium und Lehrerausbildung trägt nämlich dann dazu bei, der ‚Lehrergrammatik‘ eine angemessene Kontur zu geben. Unter ‚Lehrergrammatik‘ verstehe ich das, was Lehrer des Deutschen als Fremdsprache über die von ihnen gelehrte Sprache im Kopf haben; natürlich kann man darüber keine empirisch gesicherten Aussagen machen und natürlich gibt es ‚den Lehrer‘ / ‚die Lehrerin‘ genauso wenig wie ‚den Schüler‘; dennoch gibt es nach meinen Beobachtungen zwei Grundcharakteristika der ‚Lehrergrammatik‘, die ich anhand von expliziten metasprachlichen Reaktionen zahlreicher Lehrer gewonnen habe. Diese Charakteristika der ‚Lehrergrammatik‘ sind meiner Meinung nach vor allem auf mangelnde Ausbildung und dadurch fehlende Sicherheit im linguistischen Bereich zurückzuführen; dies hat im Übrigen nichts mit Sprachkompetenz zu tun und betrifft Muttersprachler wie Nichtmuttersprachler gleichermaßen; hier zeigt sich vielmehr ein Defizit der Lehrerausbildung.

1. Das erste Charakteristikum ist ein allgemeines Unbehagen gegenüber Neuerungen: Typisch dafür sind Äußerungen von Lehrern wie: “Das war doch schon immer so” und auf Seiten von Lehrwerkautoren und auch Verlagen: “Das erwartet der Lehrer” oder “Das kann man dem Lehrer nicht zumuten”. Symptomatisch für diese Schwerfälligkeit ist etwa, wenn den Autoren des Lehrwerks “Sprachbrücke” in einer Rezension (Bosselmann-Cyran & Wigger  1988: 265) vorgeworfen wird, sie würden die Kasus “ordentlich aufmischen”, nur weil sie die für die Vermittlung adäquate (und im Übrigen auch damals seit langem übliche) Reihenfolge ‚Nominativ – Akkusativ – Dativ – Genitiv wählen.[1]

Dieses Festhalten am Traditionellen, das sich sowohl bei Muttersprachlern als auch bei Nicht-Muttersprachlern findet, bezieht sich sowohl auf Fragen der Terminologie, als auch auf Fragen der Sprachbeschreibung sowie auf Inhalte bzw. Themen.

Was erstens die Terminologie betrifft, scheint die allgemeine Linie immer die, möglichst am Bekannten – und das heißt in den meisten Fällen: an der lateinischen Schulgrammatik –  festzuhalten (mit einer interessanten Ausnahme, der Valenztheorie); aber z.B. kenne ich keinen Ansatz im Bereich Deutsch als Fremdsprache, der etwa beim Konjunktiv terminologische Veränderungen vornähme, wo dies ja vielleicht sinnvoll sein könnte: weder die Begriffe “Konjunktiv Präsens” und “Konjunktiv Präteritum” noch “Konjunktiv I” und “Konjunktiv II” sind dem heutigen System und Gebrauch adäquat (s. dagegen z.B. Weinrich (1993: 240ff.) mit dem Vorschlag “Restriktiv” und “Indirektiv”). Ein solides Wissen im linguistischen Bereich würde den Lehrern im Übrigen auch erleichtern, sich in der nicht immer einfachen terminologischen Vielfalt in Grammatiken und anderen Publikationen zurecht zu finden: der sicherste Weg ist es dabei immer noch, sich an den Fakten zu orientieren.

Was zweitens das Festhalten an bekannten Beschreibungsmustern betrifft, so belegt dies z.B. die o.a. Rezension mit ihrem Unbehagen an der Veränderung der Kasusreihenfolge, lässt sich aber genauso feststellen an der Darstellung der Syntax: Auch wenn z.B. die Klammerstruktur (also die Satz- bzw. Verbklammer) als wesentliches Kennzeichen der deutschen Syntax gilt, das ein gehöriges Lernproblem darstellt, so gibt es doch kaum einschlägige Publikationen im Sinne etwa einer didaktischen Grammatik oder eines Lehrwerks, die die Klammerstruktur zum Grundprinzip der Sprachbeschreibung machen würde[2] (s. dazu auch unten 2.3). Und auch wenn inzwischen gezeigt wurde, dass sich die deutsche Adjektivdeklination systematisch mit zwei Paradigmen beschreiben lässt (s. z.B. Meinert 1988, Eismann & Thurmair 1994), weisen doch auch die meisten neuesten Lehrwerke drei Paradigmen auf – vermutlich vor allem deshalb, weil das eben so erwartet wird.

Was drittens neue Themen im Bereich der Grammatik betrifft, so lässt sich durchaus auf der Lehrerseite eine gewisse grundsätzliche Skepsis gegenüber der Behandlung neuer Themen ausmachen, z.B. gegenüber der Textlinguistik. Auch gegenüber Strukturen, die eher dem Bereich der gesprochenen Sprache zuzuordnen sind, besteht Skepsis – ich habe nicht nur einmal LehrerInnen klagen hören über die vielen Partikeln in den modernen Lehrwerken, die vor allem Unruhe bringen, weil den Schülern die gewünschte 1:1-Übersetzung nicht gegeben werden kann.

Diese traditionalistische Haltung, die ein Zug der ‚Lehrergrammatik‘ ist und die meines Erachtens vor allem auf mangelnde Sicherheit zurückzuführen ist, führt dann auch umgekehrt auf Seiten von Lehrwerk- oder Grammatik-Autoren und Verlagen zu einer starken Zurückhaltung, Neues zu versuchen.

2. Das zweite Charakteristikum der Lehrergrammatik ist ein starkes Normverständnis, das sich vor allem zeigt in Reaktionen auf bestimmte sprachliche Erscheinungen, die man als Abweichungen von einer existierenden Standardnorm betrachtet: da werden sprachliche Erscheinungen schnell als “falsches Deutsch” charakteristisiert, das man seinen Schülern keineswegs zumuten möchte und das man ihnen auch nicht durchgehen lässt. Dahinter steht die Auffassung, dass es zwar durchaus Sprecher des Deutschen geben mag, die bestimmte Charakteristika verwenden – z.B. Ausklammerungen, würde-Form oder weil mit Verb-Zweitstellung –, dass es sich dabei aber schlichtweg um falsches Deutsch handelt, da es von der einen bekannten Sprachnorm abweicht.

Eine gewisse linguistische Bildung könnte dagegen helfen, mögliche Abweichungen zu analysieren und sie zu bewerten: wo kommen sie vor, warum kommen sie vor, wann dürfen sie vorkommen? Aber auch dazu braucht man Wissen über das Phänomen ‚Sprache‘. Eine solide linguistische Ausbildung, die etwa das Phänomen der Varietäten, seien sie national, regional oder registerspezifisch, und des Sprachgebrauchs aufarbeitet, würde sicher dazu führen, dass Lehrende mehr Toleranz gegenüber sprachlichen Varianten aufbringen können, und es würde auch dazu führen, dass Abweichungen besser eingeschätzt werden können.

Nachdem ich nun an einigen Punkten aufgezeigt habe, was die Linguistik ganz generell an relevantem Wissen für das Studium und die Ausbildung von Fremdsprachenlehrern beitragen kann, möchte ich mich im nächsten Punkt spezieller dem Thema ‚Grammatik im Unterricht‘ widmen.

2. Grammatik im Unterricht

Bei der konkreteren Frage nach der Rolle der Grammatik im Unterricht möchte ich folgende Aspekte unterscheiden: einmal die Rolle, die Grammatik generell im Spracherwerbsprozess spielen kann, des weiteren, welchen Nutzen und welche Relevanz Grammatikkenntnisse und Beschäftigung mit Grammatik für die beiden am gesteuerten Spracherwerbsprozess Beteiligten, also Lehrer und Lerner, haben und schließlich, wie eine optimale Grammatik für den Fremdsprachenunterricht im Sinne einer Pädagogischen Grammatik aussehen soll. Letzteres kann dann wiederum der Ausgangspunkt für Überlegungen zur Lehrerausbildung sein.

2.1 Die Rolle der Grammatik im Spracherwerbsprozess allgemein

Nichts ist im Kontext des modernen Fremdsprachenunterrichts so ausführlich diskutiert worden wie die Rolle der Grammatik. In vielen Diskussionsbeiträgen wurde dabei eine (möglicherweise zu hinterfragende) Dichotomie aufgestellt zwischen Sprach-Handeln und Sprach-Wissen, d.h. zwischen Können und Kenntnissen. Dies gilt zum Teil für die frühen Ansätze der sogenannten kommunikativen Didaktik, die einen Entweder-oder-Ansatz hinsichtlich der Grammatik fuhr. Ähnliches lässt sich auch bei Krashen (1986) finden, der einen Gegensatz zwischen explizitem (Meta-)Wissen und ‚unbewusstem‘ Können aufstellt, die nahezu unvereinbar nebeneinander stehen insofern, als das explizite Wissen nicht in Können überführt werden kann. Sprachunterricht dient dann – im Sinne Krashens – eher nur dem Bereitstellen von gutem Input, der den Spracherwerbsmechanismus antreibt.

Nun weiß man aber sowohl aus Untersuchungen des Erstspracherwerbs als auch aus solchen des Zweit- bzw. Fremdspracherwerbs, dass der Lerner den sprachlichen Input nicht nur passiv aufnimmt, sondern dass er ihn  aktiv verarbeitet und in seine Wissensstruktur integriert. Sprachenlernen kann damit als ein kontinuierlicher kreativer Prozess des Bildens, Testens und Revidierens von Hypothesen über die Regularitäten der zu lernenden Sprache gelten. Dies ist im Erstspracherwerb der Fall und umso mehr beim Fremdsprachenerwerb mit kognitiv ganz anders vorgebildeten Jugendlichen oder Erwachsenen.

Explizite Grammatikerklärungen haben dann auf jeden Fall die Funktion, den trial-and-error-Prozess des Bildens, Überprüfens und Revidierens von Hypothesen über die zu erlernende Sprache zu unterstützen; sie sollten das Bilden korrekter Hypothesen fördern und dem Bilden falscher Hypothesen entgegenwirken (vgl. Storch 1999: 75). Damit können explizite Grammatikerklärungen auch den Spracherwerbsprozess verkürzen und optimieren. Und dies gilt insbesondere für eine morphosyntaktisch reiche Sprache wie das Deutsche. Ohne Erklärungen müsste ein Lerner die zugrundeliegenden Regularitäten selbst erschließen – wie beim ungesteuerten Spracherwerb; dies kann zum einen lange oder zu lange dauern; im Fremdsprachenunterricht kommt hinzu, dass der Input nicht so breit ist, d.h. das Ableiten und Prüfen von Hypothesen ist dann auch zu wenig effektiv. Grammatische Kognitivierung kann aus den genannten Gründen also auch eine spracherwerbliche Begründung bekommen. Aber selbstverständlich – insofern möchte ich nicht in alte, längst überwundene Ansichten zurückfallen – ist die Grammatik und das metasprachliche Wissen in keinem Fall Selbstzweck, sondern ein Mittel auf dem Weg zum Ziel der sprachlichen und kommunikativen Kompetenz, dessen man sich selbstverständlich entledigen kann, wenn man das Ziel erreicht hat.

Welche Forderungen sich aus diesem Status der Grammatik im modernen Fremdsprachenunterricht ableiten lassen, soll weiter unten (2.3) bei den Anforderungen an eine Pädagogische Grammatik erläutert werden.

2.2 Relevanz und Nutzen für Interaktanten im Unterricht

2.2.1 Grammatik für Lehrer

Ganz abgesehen einmal davon, dass es m.E. für den Lehrer unverzichtbar ist, Wissen über den Gegenstand, den man unterrichtet, zu haben – wie ich ja am Anfang schon ausgeführt habe –, ist der Rückgriff auf explizites Grammatikwissen natürlich auch im konkreten Unterrichtsprozess an den verschiedensten Punkten und in den unterschiedlichsten Stadien relevant (und um die Relevanz des Gesagten zu unterstreichen, möge man sich in den folgenden Fällen nur einen Muttersprachler als Lehrer vorstellen, der nie eine grammatische Ausbildung in seiner Muttersprache hatte):

·        Die Bereitstellung von gutem, d.h. ergiebigem Input, dessen Menge im Fremdsprachenunterricht ja naturgemäß sehr begrenzt ist, ist ohne Meta-Wissen kaum vernünftig zu bewerkstelligen, und nur guter Input kann die induktive Arbeit des Lerners möglich machen.

·        Das Gleiche gilt für das Anführen von treffenden Beispielen: gerade, um beim Lerner das Überführen von explizitem Sprachwissen in Sprachhandeln zu erleichtern, sind sprachliche Beispiele als modellhafte Anwendungen von Regeln von enormer Wichtigkeit. Gute Beispiele für sprachliche Strukturen zu finden ist aber für jemanden, der kein Sprach-Wissen parat hat, kaum möglich.

·        Die Kenntnis von sprachlichen Regeln und ihrer Reichweite, von regelhaften Strukturen und Ausnahmen erfordert Meta-Wissen; ein Lehrer muss Regeln einschätzen können.

·        Die Erklärung sprachbezogener Fragen, wie sie im Unterricht gerade mit Jugendlichen und Erwachsenen auftauchen (s. dazu Eckerth 1998), ist ohne Meta-Wissen nicht möglich.

·        Die Korrektur von Fehlern und die damit verbundene Erklärung erfordert ebenfalls sprachliches Meta-Wissen: und nur wenn eine Korrektur über “richtig”-“falsch” hinaus geht, kann ja der Lerner effektiv daraus lernen. 

·        Auch im Hinblick auf die in letzter Zeit vermehrt geäußerte Forderung (z.B. von H.-J. Krumm), bei den Schülern vorhandene Sprachen und somit das Sprachpotential im Fremdsprachenunterricht stärker zu nutzen und Mehrsprachigkeit im Unterricht zuzulassen, sind linguistische und genauer: grammatische Kenntnisse vonnöten.

2.2.2 Grammatik für Lerner

Die Vorteile bzw. die Berechtigung von explizitem Grammatikunterricht sind ja bereits angesprochen worden bei der Rolle der Grammatik im Spracherwerbsprozess. Ganz allgemein dient sprachliches Meta-Wissen der Lernerleichterung; Grammatikunterricht ist also keine Erschwernis, sondern eine Erleichterung, und zwar aus folgenden Gründen:

Bereitstellen von sprachlichem Meta-Wissen und damit die Bewusstmachung von sprachlichen Regeln löst oft überhaupt erst die für den Spracherwerb notwendige Bildung von Hypothesen über die zu erlernende Sprache aus; und das gilt vermutlich insbesondere, wenn Sprachen gewisse Unterschiede aufweisen.  Man weiß ja z.B. aus dem Bereich der Phonetik, dass man überhaupt erst bestimmte relevante Unterscheidungskriterien hören lernen muss, das heißt, man muss auf sie aufmerksam gemacht werden, sie müssen bewusst gemacht werden. Eine ähnliche Rolle kann explizite Grammatikunterweisung übernehmen, indem sie den Blick für Systemhaftes und Regelhaftes überhaupt erst schärft. Und da Meta-Wissen das Bilden von Hypothesen beim Spracherwerb systematisiert und erleichtert, wird natürlich der Lernprozess und der Spracherwerbsprozess dadurch verkürzt.

Darüber hinaus kann grammatisches Wissen als Basiswerkzeug fungieren:  Fandrych (2000: 7) hat darauf hingewiesen, dass explizite Grammatikvermittlung und die damit erreichte Vertrautheit mit grammatischer Arbeit und auch grammatischer Grundterminologie als Basiswerkzeugkasten für lebenslanges Sprachenlernen dienen kann. Das ist zum einen relevant, um Lernern ein Weiterlernen in der Sprache zu ermöglichen, wie es nicht zuletzt mit den neuen Medien immer wichtiger wird. Der autonome Lerner muss Kenntnisse haben, um selbständig sein erworbenes Wissen vertiefen zu können und um weiterlernen zu können.

Zum anderen ist – gerade in einer Zeit, in der vermehrt Forderungen nach einer Erziehung zur Mehrsprachigkeit laut werden – ein grammatischer Basiswerkzeugkasten eine wertvolle und überaus lohnende Investition, da er auch Hilfe für das Erlernen weiterer Sprachen bereitstellt. Hier kommt dem Deutschen – gerade aus der Sicht des englischen Muttersprachlers – eine wesentliche Rolle zu:  das Deutsche könnte sich mit seinem morphosyntaktisch reicheren System nicht schlecht dazu eignen, Kategorien und Analyse-Instrumente bereitzustellen, die man dann anderswo – d.h. beim Erwerb anderer Sprachen – einsetzen kann. So gilt zwar das Deutsche im Vergleich mit dem Englischen als schwierig; im Vergleich mit anderen europäischen Sprachen aber (z.B. den slavischen) ist das Deutsche nicht besonders komplex; die deutsche Sprache und die mit ihrem Erwerb einhergehende systematisierende Grammatikarbeit könnte hier auch in dieser Hinsicht eine Brückenfunktion ausüben. Selbstverständlich darf die Grammatikarbeit im Fremdsprachenunterricht dennoch nur eine dienende Rolle spielen – aber schaden kann solcherart erworbenes grammatisches Wissen sicher nicht. In dieser Hinsicht ist Fandrych (2000: 8) nur zuzustimmen, wenn er “grammatisches Grundwissen und grammatische Analysefähigkeit als Schlüsselstrategie” ansieht, die (...) “autonomes und eigenständiges (Weiter-)Lernen erst ermöglicht und Kommunikation gerade fördert.”

Damit macht explizite Grammatikvermittlung den Lerner autonom und selbstständig: explizites Grammatikwissen ermöglicht dem Lerner, seinen eigenen Lernprozess zu steuern, seinen Spracherwerbsprozess und sein Sprachhandeln zu reflektieren, zu korrigieren  und zu begründen (s. auch Harden 1995). Explizites Grammatikwissen stärkt schließlich auch das, was Han & Ellis (1998) als eine Zwischenebene zwischen metasprachlichem Wissen und implizitem Wissen ansetzen, nämlich das sogenannte ‚analysed knowledge‘, das bei Fandrych (2000) “grammatische Analysefähigkeit” genannt wird. Diese zeigt sich z.B. darin, dass Lerner selbst Fehler korrigieren können und ansatzweise auch sprachstrukturelle Probleme auf den Punkt bringen können. Grammatische Analysefähigkeit ist sicher auch etwas, was dem sogenannten Sprachgefühl zugrunde liegt. Lernende bekommen also durch die Grammatikvermittlung ein Gefühl für grammatische Strukturen und das Funktionieren von Regeln sowie ein Gefühl für die Sprache ganz allgemein. Dies trägt letztlich zu einer Sicherheit in der zu lernenden Sprache bei. (Zur Einstellung der Lerner in Bezug auf Grammatikvermittlung s. Harden & Marsh 1993 und Zimmermann 1995).

Nun erfordert aber die spezifische Unterrichtssituation beim gesteuerten Fremdspracherwerb eine spezifische Grammatik, die ich Pädagogische Grammatik nennen möchte.[3] Auf die Charakteristika einer solchen Grammatik soll nun eingegangen werden.

2.3 Pädagogische Grammatik

Unter einer pädagogischen Grammatik verstehe ich eine linguistische Beschreibung des Sprachsystems aus der Fremd- und aus der Vermittlungsperspektive, die einige generelle extra-linguistische, genauer pädagogische Prinzipien berücksichtigt (s. dazu auch Thurmair 1997). Grundsätzlich muss also die Sprachbeschreibung in einer Pädagogischen Grammatik dergestalt sein, dass grammatische Strukturen verständlich und lernbar sind. Daraus folgen zwei Gruppen von Forderungen: die einen sind stärker auf das Linguistische bezogen und die zweite Gruppe ist stärker auf das Pädagogisch-Didaktische bezogen. Die Fachdiskussion geht nun allerdings vor allem um die pädagogischen und didaktischen Anteile einer solchen Grammatik, über die grammatische Seite wird wenig diskutiert. Dabei könnten gerade die spezifischen Erfordernisse für den Fremdsprachenerwerb der Sprachbeschreibung wichtige Impulse geben.

Eine Pädagogische Grammatik in dem nun skizzierten Sinne könnte und sollte auch leitend sein für die Lehrerausbildung, insofern sie für das Fachstudium eine spezifische Linguistik konturiert. Wie soll nun eine Pädagogische Grammatik aussehen?

a) Klar und einfach

Die Sprachbeschreibung in einer Pädagogischen Grammatik muss klar und einfach sein. Diese Forderung scheint trivial zu sein und gilt natürlich für jede gute linguistische Beschreibung. In der Tat aber ist bei den gängigen Sprachbeschreibungen, wie man sie in Grammatiken oder Lehrwerken vorfindet, dieses Prinzip nicht immer verwirklicht.

Bei der Darstellung der Adjektivdeklination etwa gehen manche Lehrwerke (z.B. “Deutsch Aktiv Neu”, 1B, Neuner et al. 1986: 56ff.) von vier Paradigmen aus (nach bestimmtem Artikel, nach unbestimmtem Artikel, nach Possessivartikel und nach fehlendem Artikel). Demgegenüber gibt es auch, insbesondere, wenn man die Deklination der ganzen Nominalgruppe berücksichtigt, eine einfache – und damit klarere – Darstellung mit zwei Paradigmen (s. dazu z.B. das Lehrwerk “Die Suche”, Eismann et al. 1994: 180 oder “Klipp und Klar”, Fandrych & Tallowitz 2000: 180ff.).

Ein weiteres Grammatikthema, das in vielen Lehrwerken, z.B. in “Themen” und “Themen neu” (Aufderstraße et al. 1982ff., 1997ff.), meines Erachtens unnötig komplex dargestellt wird, ist die Wortstellung.

Auch, was das sogenannte Zustandspassiv betrifft, könnte man sich sicher um einfachere Beschreibungen bemühen: so ist es plausibel, sich zu fragen, ob Strukturen wie ist geöffnet oder ist informiert als Zustandspassiv adäquat beschrieben sind oder ob sie sich nicht über eine Analyse von der Prädikation her besser erfassen lassen (s. dazu Fandrych 2000: 9f.).

Das Beispiel der Adjektivdeklination macht darüber hinaus ein weiteres Prinzip deutlich, das meines Erachtens dazu beiträgt, Sprachbeschreibungen im Sinne einer Lernerleichterung klarer zu machen: die Notwendigkeit der Systematisierung und des Aufdeckens von Zusammenhängen. So wird selbstverständlich die Deklination des Adjektivs erleichtert, wenn der Zusammenhang mit der Deklination des bestimmten Artikels hergestellt wird (s. dazu etwa Eismann & Thurmair 1993; zu einer einfachen und systematischen Darstellung des Konjugationssystems im Deutschen s. Eismann & Thurmair 1994). Gerade bei der im Fremdsprachenunterricht meist notwendigen Portionierung in der Einführung grammatischer Strukturen gehen übergreifende Systematiken und Zusammenhänge oft verloren, die doch stark lernerleichternd sein könnten.

Auch in der Frage der Darstellungen lassen sich oft Vereinfachungen finden, wie z.B. die Reihenfolge der Genera “Maskulin – Neutrum – Femininum” oder die inzwischen weitgehend erfolgte Darstellungsreihenfolge der Kasus mit “Nominativ – Akkusativ – Dativ – Genitiv”.

b) Kontrastiv

Eine Pädagogische Grammatik muss die zu fassende Sprache – wie schon erwähnt – natürlich auch unter dem Blickwinkel der Vermittlung als fremde Sprache beschreiben. Der analytische Blick auf die deutsche Sprache sollte also von außen kommen, was bedeutet, dass kontrastive Aspekte in spezifischer Weise zu berücksichtigen sind.

Was die kontrastive Linguistik betrifft, so haben sich zwar nicht alle zu Anfang in sie gesetzten Erwartungen erfüllt (etwa hinsichtlich der durch Sprachvergleich prognostizierbaren Schwierigkeiten); dennoch ist die kontrastive Sichtweise für eine Pädagogische Grammatik zentral. Wenn eine Pädagogische Grammatik nicht auf eine bestimmte Kontrastsprache abheben kann, heißt kontrastive Betrachtung allgemeiner: diejenigen Erscheinungen zu berücksichtigen, in denen sich Deutsch als Zielsprache von einer größeren Menge möglicher Ausgangssprachen unterscheidet sowie diejenigen Erscheinungen, die im Deutschen von besonderer Komplexität sind. Meistens wird sich ersteres und letzteres decken, aber nicht immer. 

Für den letzteren Fall, also besonders komplexe Sprachstrukturen, sind viele Beispiele aus der Morphologie einschlägig, z.B. die Deklination, die für Lerner immer schwierig ist, egal, ob ein vergleichbares System in der Muttersprache existiert oder nicht. Für den ersten Fall, nämlich Strukturen, in denen sich Deutsch als Zielsprache von einer Vielzahl möglicher Ausgangssprachen unterscheidet, ist die Klammerstruktur des Deutschen einschlägig.

Eine Verbklammer besteht aus zwei Teilen, einem klammeröffnenden und einem klammerschließenden Element, zwischen denen maximal so viele andere sprachliche Elemente Platz finden können, wie das (Kontext-)Gedächtnis jeweils speichern kann. Dabei enthält das klammeröffnende Element vor allem die grammatische Information, das klammerschließende eher die semantische Information. Z.B.: Boris Becker hat das Finale in Wimbledon in einem spannenden 5-Stunden-Spiel, das mehrmals durch Regenpausen unterbrochen wurde, doch noch – verloren.

Die Sprachbeschreibung in einer Pädagogischen Grammatik sollte nun von diesem Charakteristikum der deutschen Sprache her beginnen, und das deutsche Verb als grundsätzlich zweiteilig analysieren. (Eine solche Sprachbeschreibung findet sich etwa in Weinrich 1993.) Dafür spricht zum einen die hohe Frequenz der tatsächlich zweiteilig auftretenden Verben und die virtuelle Zweiteiligkeit aller Verben (s. dazu Thurmair 1991). Dafür sprechen aber auch lernpsychologische Gründe: Lerner werden von Anfang an mit dieser Besonderheit der deutschen Syntax vertraut gemacht und nicht in einer verräterischen Sicherheit gehalten, es sei ja alles wie in der eigenen Sprache. Schließlich kann man auf die Klammer als grundlegendes Stellungsprinzip des Deutschen auch an späterer Stelle zurückgreifen, etwa bei den erweiterten Partizipialgruppen. Dieses strukturelle Grundprinzip des Deutschen, also die Klammer, wird natürlich in keinem Lehrwerk des Deutschen als Fremdsprache vernachlässigt; die Zweiteiligkeit des Verbs wird aber kaum zum Grundprinzip gemacht. Der übliche Weg in Lehrmaterialien ist, dass mit einteiligen finiten Verben begonnen wird; und erst nach und nach – bei der Einführung der Modalverben etwa oder beim Perfekt – die Klammerstellung für den Lerner erkennbar wird. Ein systematisches Ausgehen von der Klammerstruktur wäre z.B. eine linguistisch orientierte Vorgehensweise, die konsequent den Blick auf die deutsche Sprache von außen und nach außen richtet.

3. Sprachangemessen

Eine dritte allgemeine Forderung an eine Pädagogische Grammatik ist, dass sie sprachangemessen sein muss. Zum einen muss eine Pädagogische Grammatik wenigstens von Zeit zu Zeit die kodifizierten Normen hinterfragen und überprüfen, ob diese und damit das, was im Fremdsprachenunterricht vermittelt wird, noch der tatsächlichen Sprachrealität im Zielsprachenland entspricht.

Ein gutes Beispiel ist dafür der Bereich des Konjunktivs, in dem (früher) oft postulierte Bedeutungsunterschiede (z.B. zwischen Konjunktiv II und der würde-Form oder zwischen Konjunktiv I, Konjunktiv II und der würde-Form in Indirekter Rede) heute nicht mehr gültig sind.

Ein weiteres Beispiel ist etwa das Lehren des Futur II (Futur Perfekt); dieses wird so gut wir gar nicht mehr verwendet, taucht aber in manchen Lehrwerken noch an prominenter Stelle auf.

Ein weiteres Beispiel für Sprachangemessenheit ist die adäquate Berücksichtigung von Varietäten und Registern, die für den Fremdsprachenlerner relevant sind, zum Beispiel die gesprochene Sprache mit all ihren Charakteristika.

Die nachfolgenden drei Prinzipien einer Pädagogischen Grammatik sind etwas stärker pädagogische denn linguistische Prinzipien: hier geht es also eher um das Unterrichtsgeschehen, d.h. die Frage, wie es dem Lerner durch einen geschickt gewählten Kontext erleichtert werden kann, sein explizites Sprachwissen in implizites, praktisches Sprachkönnen zu überführen.

4. Inhaltlich ansprechendes Grammatiklernen. Keine Lehrtexte als Leertexte!

Grammatische Strukturen treten – ganz banal formuliert – in Texten auf; diese sollten auch im Fremdsprachenunterricht der Grundstufe stärker inhaltliche Gesichtspunkte berücksichtigen. Dazu ein (satirisch zugespitztes) Beispiel:


Deutsch für Ausländer

Ein Fernsehkurs

In unserer 8. Lektion für die Mittelstufe behandeln wir zunächst den Unterschied zwischen dem unbestimmten Artikel und dem Possessiv-Pronomen, wobei wir gleichzeitig das Konjugieren im Präsens üben.

 

(Ein Herr und eine Dame liegen unbekleidet im Ehebett)

ER            Wie heißen Sie?

SIE           Ich heiße Heidelore.

ER            Heidelore ist ein Vorname.

SIE           Ja, Schmoller ist mein Nachname. Mein Mann heißt Viktor.

ER            Ich heiße Herbert.

 

Die Endungen der starken und schwachen Verben sind im Präsens gleich. Beachten Sie die Verwendung der Hilfsverben ‘sein’ und ‘haben’ und den richtigen Gebrauch der Zahlwörter.

 

SIE           Wir besitzen ein Kraftfahrzeug. Mein Mann fährt mit der Bahn ins Büro.

ER            Ich bin 37 Jahre alt und wiege 81 Kilo.

SIE           Viktor ist fünf Jahre älter und ein Kilo schwerer. Sein Zug fährt morgens um 7 Uhr  36.

ER            Mein Onkel wiegt 79 Kilo. Sein Zug fährt um 6 Uhr 45.

SIE           Mein Mann ist fest angestellt. Er arbeitet bis 17 Uhr 30.

ER            Ich habe drei Cousinen. Sie wiegen zusammen 234 Kilo.

 

... und nun bilden wir den Konjunktiv durch Umlaut aus dem Imperfekt des Indikativs und üben das bisher Gelernte.

 

SIE           Wenn Viktor eine Monatskarte hätte, käme er um 18 Uhr 45.

ER            Würde ich vier Cousinen haben, wögen sie 312 Kilo.

(Der Ehemann betritt das Schlafzimmer)

 

VIKTOR   Ich heiße Viktor. Ich wiege 82 Kilo.

ER            Ich heiße Herbert. Mein Zug fährt um 19 Uhr 26.

SIE           Das ist mein Mann.

ER            Das ist meine Hose.

VIKTOR   Das ist meine Aktentasche.

 

Dieser Textausschnitt stammt von dem deutschen Satiriker Loriot und zeigt Unzulänglichkeiten, die aber in gängigen Unterrichtssituationen genauso zu finden sind. Das Problematische solcher Texte liegt darin, dass sie als Lehrbuchtexte für den Fremdsprachenunterricht gemacht sind, d.h. für die Vermittlung von sprachlichen Strukturen. Sie sind folglich monofunktional, dienen nur der Darstellung und Vermittlung von Lehr- und Lernstoff; sie sind (vor allem im Anfängerunterricht) reduziert hinsichtlich des Sprachmaterials, möglicher Sprachfunktionen und hinsichtlich der dargestellten fremdsprachlichen Wirklichkeit; sie sind deshalb oft banal. Die Texte sind eben Lehrtexte und damit Leertexte. Lehrtexte können und sollten aber auch inhaltlichen Ansprüchen genügen, womit sie ihre wesentliche Aufgabe, nämlich Sprachstrukturen und -fertigkeiten zu vermitteln und zu üben, keinesfalls vernachlässigen oder gar aufgeben müssten. Lehrtexte sollten Texte sein, die den Lerner ansprechen, an denen er etwas erfahren, entdecken und wenn möglich sogar genießen kann; es sollten auch Texte sein, die sich in ihrem sprachlichen Angebot nicht nur an der Produktionsfertigkeit des Lerners orientieren, sondern stärker auch an einer rezeptiven Fertigkeit. Dass dies möglich ist, zeigt etwa das Lehrwerk  “Die Suche” (Eismann et al. 1993, 1994, 1996), das auf einer literarischen Erzählung basiert.

Inhaltlich ansprechende Texte erfüllen auch die nächste Forderung an eine Pädagogische Grammatik, nämlich: Sprache in Funktion darzustellen.

5. Sprache in Funktion: Für eine stärkere Berücksichtigung von Textsorten

Unter Textsorten versteht man im Allgemeinen eine Klasse von Texten, die als konventionell geltende Muster bestimmten (komplexen) sprachlichen Handlungen zuzuordnen sind. Texte als Exemplare einer (prototypischen) Textsorte haben eine spezifische Intention und Zielsetzung. Um diese zu erreichen, haben sich Text- und Handlungsmuster entwickelt. Die Textsorte mit der ihr eigenen Intention bestimmt also die Form dessen, was ausgedrückt wird; bzw. umgekehrt: die eingesetzten sprachlichen Mittel dienen der spezifischen Zielsetzung, sind also wirklich “in Funktion”.

Das folgende Beispiel (aus “Unterwegs”, Bahlmann et al. 1998: 147) macht deutlich, wie dasselbe Thema in unterschiedlichen Textsorten (Beispiel 1 = Erzählung, Beispiel 2 = Spielregel) dargestellt wird, wie also die sprachliche Gestaltung von der gewählten Textsorte mit ihrer spezifischen Funktion beeinflusst wird.

1)  Gestern haben wir Charade gespielt. Das war vielleicht witzig! Zuerst haben wir einen aus unserer Gruppe vor die Tür geschickt. Wir haben dann einen Begriff ausgesucht, den er erraten musste, nämlich “Führerschein”.

2)  Charade: Zuerst wird ein Mitspieler bestimmt, der vor die Tür geschickt wird. In der Gruppe wird dann ein Begriff gesucht, der von dem Mitspieler zu erraten ist.

Verschiedene Textsorten eignen sich auch im Fremdsprachenunterricht besonders gut dazu, sprachliche Mittel in ihrer Funktion sichtbar zu machen und zu erklären, erlauben also einen wirklich pragmatischen Zugang auch in der Spracharbeit (mehr als die Verbindung von bestimmten Themen und grammatischen Strukturen – etwa Adjektiv und Familie oder Modalverben und Straßenverkehr, wie man es in manchen Darstellungen zur kommunikativ orientierten Grammatikvermittlung findet; s. dazu etwa Pachler & Field (1997: 149)). Darüberhinaus lässt die Arbeit mit verschiedenen Textsorten im Fremdsprachenunterricht auch ein differenziertes Fertigkeitstraining zu.

Die gerade genannten Forderungen, nämlich eine stärkere Berücksichtigung des Inhalts der im Fremdsprachenunterricht verwendeten Texte und von Textsorten, lassen sich schließlich auch auf den Übungsapparat in Fremdsprachengrammatiken und -lehrwerken beziehen: Auch hier ist m.E. die Forderung nach einem strikt kontextualisierten und ‚inhaltsorientierten‘ Grammatiklernen zentral: Sprachformbezogene Übungen, die etwas zu Unrecht oft als “Drillübungen” bezeichnet werden, müssen nicht monoton verlaufen, müssen nicht den Lerner und Lehrer durch kontextisolierte Beispiele langweilen und durch triviale und platte Inhalte unterfordern, wie dies auch in neuestem Lehrmaterial der Fall ist. Sie können im Gegenteil bedeutungshaft, auf Sinn angelegt sein, den Lerner inhaltlich ansprechen und damit durchaus auch motivierend sein. (Übungen, die dieser Forderung genügen, finden sich etwa im Lehrwerk “Die Suche” (Eismann et al. 1994, Eismann et al. 1996) oder “Sprachbrücke” (Mebus et al. 1987)). Mit solchermaßen gestalteten Übungen würde ein Mittelweg eingenommen zwischen korrektem, aber belanglosem Reproduzieren und dem freien, aber chaotischen Drauflosreden. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass die Beziehung zwischen formbezogenen und inhaltsbezogenen Übungen eine sehr diffizile ist und gut ausbalanciert sein muss; wichtig ist, nicht neue inhaltliche Schwierigkeiten zu schaffen und den Lerner inhaltlich nicht zu stark zu verstricken, damit das Interesse nicht ‚zu den Sachen durchbrennt‘.

6. Anschaulich

Selbstverständlich sollte eine Pädagogische Grammatik sich darum bemühen, ihre Beschreibungen und Darstellungen konkret und anschaulich zu machen:

Das betrifft einmal die Darstellung selbst, also Formen der Visualisierung grammatischer Phänomene – ein Bereich, der inzwischen ganz gut aufgearbeitet ist; aber auch die inhaltliche Darstellung kann mehr oder weniger Anschaulichkeit bringen. Als einen gelungenen Versuch in diese Richtung betrachte ich dabei verschiedene Vorschläge von Weinrich, die in seiner Textgrammatik (Weinrich 1993) vorgestellt wurden und die sich – mit mehr oder weniger Veränderungen – in eine Pädagogische Grammatik integrieren lassen. So gibt Weinrich z.B. im Rahmen der Beschreibung von Ergänzungen des Verbs einige semantisch basierte Erklärungen, die m.E. durchaus dazu dienen, diesen Bereich anschaulicher und damit natürlich auch langfristig besser behaltbar zu machen. Auch wird z.B das Dativobjekt bzw. indirektes Objekt nicht als solches bezeichnet, sondern als ‚Partner‘, insofern es (jedenfalls in den allermeisten Fällen) Personen bezeichnet, die von einer Handlung betroffen sind bzw. an die sich eine Handlung richtet.

Schließlich ist auch die Mnemotechnik (s. dazu Sperber 1989) – gerade für strukturelle Erscheinungen, die sich nicht mehr systematisieren lassen wie Genus oder unregelmäßige Verben – auch durch ihre Anschaulichkeit von unschätzbarem Wert.

Im Vorangegangenen ist hoffentlich deutlich geworden, dass Linguistik ein unverzichtbarer Bestandteil der Ausbildung eines Fremdsprachenlehrers sein sollte – und dass man natürlich idealerweise eine spezifische Lingustik in der Lehrerausbildung haben sollte, die auch einen Bezug herstellt zum Lernen und Unterrichten von Sprache. Was den Sprachunterricht selbst betrifft, so wird m.E. eine Fremdsprache nicht dadurch attraktiver, dass man die Grammatik völlig aus dem Sprachunterricht verbannt. Das wäre eine kurzsichtige Entscheidung. Eher sollte man sich Gedanken über einen guten, abwechslungsreichen und motivierenden Grammatikunterricht machen. Ich hoffe, dazu einige Anregungen gegeben zu haben.

Literatur

Lehr- und Lernmaterialien

Aufderstraße, Hartmut; Bock, Heiko; Gerdes, Mechthild; Müller, Jutta; Müller, Helmut H. (1987ff.) Themen. München.

Aufderstraße, Hartmut; Bock, Heiko; Gerdes, Mechthild; Müller, Jutta; Müller, Helmut (1992ff) Themen Neu. München

Bahlmann, Clemens; Breindl, Eva; Dräxler, Hans-Dieter; Ende, Karin; Storch, Günther (1998) Unterwegs. Lehrwerk für die Mittelstufe. Materialienbuch. Berlin etc.

Eismann, Volker; Enzensberger, Hans Magnus; Eunen, Kees van; Helmling, Brigitte; Kast, Bernd; Mummert, Ingrid; Thurmair, Maria (1993) Die Suche. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache. Textbuch 1. Berlin etc.

Eismann, Volker; Enzensberger, Hans Magnus; Eunen, Kees van; Helmling, Brigitte; Kast, Bernd; Mummert, Ingrid; Thurmair, Maria (1994) Die Suche. Arbeitsbuch 1. Berlin etc.

Eismann, Volker; Schneider, Peter; Altschüler, Ursula; Rothenhäusler, Rainer; Thurmair, Maria (1996) Die Suche. Arbeitsbuch 2. Berlin etc.

Eismann, Volker; Schneider, Peter; Altschüler, Ursula; Rothenhäusler, Rainer; Thurmair, Maria (1996) Die Suche. Textbuch 2. Berlin etc.

Fandrych, Christian; Tallowitz, Ulrike  (2000) Klipp und Klar. Übungsgrammatik Grundstufe Deutsch. Stuttgart.

Mebus, Gudula; Pauldrach, Andreas; Rall, Marlene; Rösler, Dietmar (1987ff.) Sprachbrücke. Stuttgart.

Neuner, Gerhard; Scherling, Theo; Schmidt, Reiner; Wilms, Heinz (1986ff.) Deutsch Aktiv. Berlin etc.

Wissenschaftliche Literatur

Bosselmann-Cyran, Kristian; Wigger, Arndt (1988) Mit Mickey Mouse in Lilaland. Info DaF 2, 264-271.

Eckerth, Johannes (1998) Kognitive Aspekte sprachbezogener Lernerfragen: Interaktion und Kognition im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht. Baltmannsweiler.

Eismann, Volker; Thurmair, Maria (1993) Wie schwer soll die deutsche Grammatik sein? [Teil 1] Ein Erklärungsmodell für die Konjugation. Deutsch als Fremdsprache 30, 238-245.

Eismann, Volker; Thurmair, Maria (1994) Wie schwer soll die deutsche Grammatik sein? [Teil 2] Ein Erklärungsmodell für die Deklination. Deutsch als Fremdsprache 31, 152-156.

Fandrych, Christian (2000) Ist der Kommunikative Ansatz im Fremdsprachenunterricht an seine Grenzen gekommen? German Studies at Aston, 1 (2000), 2-12.

Grauberg, Walter (1997) The Elements of Foreign Language Teaching. Clevedon etc.: Multilingual Matters.

Han, Youngju; Ellis, Rod (1998) Implicit knowledge, explicit knowledge and general language proficiency. Language Teaching Research 2, 1 (1998), 1-23.

Harden, Theo; Marsh, Cliona (Hgg.) (1993) Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München.

Harden, Theo (1995) Back to basics oder zurück in die Zukunft. Die Rolle der Linguistik in der DaF-Lehrerausbildung. In: Günther Blamberger; Gerhard Neuner (Hgg.) Reformdiskussion und curriculare Entwicklung in der Germanistik. Bonn, 159-166.

Helbig, Gerhard (1985) Zu den Beziehungen zwischen Grammatik und Fremdsprachenunterricht (FU). In: K. Nyholm (Hg.) Grammatik im Unterricht. Abo.

Jung, Lothar (1993) Fremdsprachenunterricht ohne Grammatik? Nein, danke! In: Harden, Theo; Marsh, Cliona (Hgg.) 107-118.

Krashen, Stephen D. (1986) Principles and Practice in Second Language Acquisition. Pergamon.

Meinert, Roland (1988) Die deutsche Deklination und ihre didaktischen Probleme. München.

Pachler, Norbert ; Field, Kit (1997) Learning to Teach Modern Foreign Languages in the Secondary School. London: Routledge.

Schmidt, Rainer (1991) Lern(er)-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Fremdsprache lehren und lernen (FLUL) 20, 52-71.

Sperber, Horst (1989) Mnemotechniken im Fremdsprachenerwerb. München.

Storch, Günther (1999) Deutsch als Fremdsprache – Eine Didaktik. München.

Thurmair, Maria (1991) Warten auf das Verb. Die Gedächtnisrelevanz der Verbklammer im Deutschen. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 17, 174-202.

Thurmair, Maria (1997) Nicht ohne meine Grammatik! Vorschläge für eine Pädagogische Grammatik im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache; Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 23, 25-45.

Weinrich, Harald (1993) Textgrammatik der deutschen Sprache (unter Mitarbeit von M.Thurmair et al.). Mannheim.

Zimmermann, Günther (1995) Einstellungen zu Grammatik und Grammatikunterricht. In: Claus Gnutzmann; Frank G. Königs (Hgg.) Perspektiven des Grammatikunterrichts. Tübingen, 181-200.

 

Biographische Informationen

Maria Thurmair, Professorin für Deutsch als Fremdsprachenphilologie an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Grammatik des Deutschen und Pädagogische Grammatik, Textgrammatik und Textsorten, Fach- und Wissenschaftssprache, Lehrwerkreflexion. Veröffentlichungen u.a.: Vergleiche und Vergleichen. Eine Studie zu Form und Funktion der Vergleichsstrukturen im Deutschen. Tübingen: Niemeyer 2001 Die Suche. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache. Berlin etc. Mitarbeit an: H. Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim 1993

 



[1] Wörtlich heißt es: “Ist es nicht ungemein schick, statt der alten gewöhnlichen Kasusreihenfolge Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ die ganze Sache mal ordentlich aufzumischen: Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv? Ja, so macht das Lernen Spaß [...]”

[2] Eine Ausnahme stellt hier nun die jüngst erschienene Übungsgrammatik “Klipp und Klar” (Fandrych & Tallowitz 2000) dar, die von Anfang an mindestens in den Satzschemata die Verbklammer zeigt.

[3] Pädagogische Grammatik unterscheidet sich in meinem Verständnis also von dem Konzept einer Lernergrammatik, wie es etwa Schmidt verschiedentlich beschrieben hat (s. z.B. Schmidt 1991), insofern sie weiter, umfassender und allgemeiner ist. Mein Verständnis von Pädagogischer Grammatik entspricht etwa dem von Helbig  (1985), der “pädagogisch” als Überbegriff verwendet, “didaktisch” dagegen als differentia specifica und Didaktische Grammatik damit als Spezialfall der Pädagogischen fasst.