Deutsch als fremde Wissenschaftssprache im nächsten Jahrhundert

Konrad Ehlich (München) p.47-63

2000 Issue 1

Abstract

Deutsch als Wissenschaftssprache gilt derzeit nach verschiedenen Darstellungen als obsolet; Repräsentanten deutscher Wissenschaftspolitik, naturwissenschaftlicher Forschungsinstitutionen und einzelner Disziplinen befördern durch unterstützende Maßnahmen sein Verschwinden (§ 1.). Der Artikel geht der Frage nach dem Charakter, den Erwartungen, den Hoffnungen und den Begründungen solcher Auffassungen und solcher Wissenschaftspolitik nach und wägt ihre Kosten und ihren Nutzen gegeneinander ab. Der Berufung auf die mittelalterliche Monolingualität in den Wissenschaften als Modell wird die Faktizität einer gespaltenen Wissenswelt gegenübergestellt (§ 2.) Der Prozeß der Nationalisierung von Wissenschaft in der Neuzeit wird in seinen Leistungen beschrieben (§ 3.). Sprachlichkeit ist Teil des Wissenschaftsgeschehens selbst, und der Sprache kommt eine eigenständige gnoseologische Funktion bei der Wissensgewinnung zu (§ 4.). Die einzelnen Wissenschaftssprachen machen spezifischen und jeweils anderen Gebrauch von ihren alltagssprachlichen Ressourcen (§ 5.). Die Differenz der unterschiedlichen sprachlichen Verfaßtheit von Wissenschaft ist wesentliche Bedingung für ein (gegen ethnozentrische Verkürzungen geschütztes) reflexives Umgehen mit Wissen (§ 6.). Die nationalsprachliche Verfaßtheit von Wissenschaft ermöglicht Durchlässigkeit und allgemeine Zugänglichkeit des gesellschaftlichen Wissens für tendenziell alle Mitglieder der jeweiligen Sprachgemeinschaft – was für demokratische Entscheidungen über Wissenschaft und Wissenschaftssfolgen unabdingbar ist (§ 7.). Mit Blick auf das US-Amerikanische als einzige Welt-Wissenschaftssprache wird unter dem Etikett der “Globalisierung” eine faktische Hegemonie eines Nationalstaates, eben der USA, für den Wissenschaftsbetrieb verschleiert, eine Hegemonie, die kulturimperialistische Züge trägt und zu absehbar drastischen Folgen für die anderen Wissenschaftskulturen zu führen im Begriff ist (§ 8.). Dazu gehört nicht zuletzt die Bedrohung der weiteren Entwicklung der einzelnen Hochsprachen als für alle kommunikativen Bereiche hinreichender Kommunikationsmedien (§ 9.). Als Folgerung aus den Darlegungen wird dafür plädiert, den sprachpolitischen Entscheidungscharakter der gegenwärtigen wissenschaftssprachlichen Situation zu erkennen und die Entscheidung für oder gegen die weitere Nutzung einzelner Nationalsprachen wie des Deutschen für die Wissenschaft von einer neuen, reflektierten Einschätzung von Kosten und Nutzen abhängig zu machen.